The Book of Roxanne Lockhart

Hellcat

Midcard
Roxanne Lockhart – Prolog I


Vor zehn Jahren…

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AWO Kita „Ringelblume“, Erfurt



Seit etwa gut einem Jahr ist Roxanne schon fast vollzeit-mäßig im Praktikum drin und sie liebt es. Nichtsdestotrotz hat es sie überrascht, wie viel Zeit die Kleinkinder täglich in Anspruch nehmen und daher ist sie eigentlich nicht wirklich dazu gekommen, die Kolleginnen so richtig kennen zu lernen. Aber heute hat sich die Gelegenheit endlich geboten, mal ein wenig Techtelmechtel mit der freundlichen Kollegin Karolin zu betreiben.

So sitzen eine frisch designierte Erzieherin und eine alteingessene Kindergärtnerin gemeinsam am Tisch in kleinem Bürozimmer, während die Kleinkinder den Mittagsschläfchen halten.


Roxanne: „Du, die Tür zum Bad klemmt immer mal wieder…“

Karolin: „Ach diese blöde Tür. Pass bloß nur auf, die klemmt manchmal so fest, dass wir es nicht aufkriegen. Der Hausmeister wollte das ja noch reparieren, aber jetzt ist er im Urlaub… nächste Woche ist er aber wieder da.“


Sie zuckt die Achseln und schlürft, wie Roxanne auch, Kaffee aus der Tasse. Nach einem musternden Blick lächelt Roxannes Kollegin.

Karolin: „Mensch, Roxanne, eine bessere Kollegin kann ich mir echt kaum vorstellen.“

Die attraktive, aber doch etwas dürre Frau mit schokoladenbrauner Haut lächelt dankbar.

Roxanne: „Ohne dich wäre ich aber auch wirklich aufgeschmissen, liebe Karolin. Daher ist höchste Eisenbahn, dich endlich mal näher kennenzulernen.“

Karolin: „Ach, pffft, wen interessiert die Karolin. Ich bin nur eine normale weiße, gestresste Frau mit einer Beziehung, die zum Scheitern verurteilt ist… deine Persönlichkeit interessiert mich doch viel mehr.“


Da muss Roxanne doch laut auflachen und legt kurz, aber herzlich eine Hand auf Karolins Schulter.

Karolin: „Also, Roxanne, wo kommst du ursprünglich her? Zumindest nach der Hautfarbe können deine Wurzeln wohl eher nicht in Deutschland liegen. Oh, entschuldige, ich wollte nicht auf die Hautfarbe reiten oder so etwas…“

Roxanne: „Quatsch, nein. Dass ein Deutscher dunkelhäutig ist, ist doch sehr außergewöhnlich, daher ist so eine Frage durchaus berechtigt. Aber du wirst mir nicht glauben – ich bin tatsächlich in Deutschland geboren. Hier in dieser Stadt sogar.“

Karolin: „Ach, nein? Wie kam es denn dazu?“

Roxanne: „Laut meinen Eltern eher eine abenteuerliche Geschichte, aber dazu komme ich später. Mein Vater ist echter Afroamerikaner, er ist in Boston geboren und aufgewachsen, ist dann zur US Airforce gegangen. In Ramstein hier gibt es ein großer Flughafen der Amerikaner und damals im Kalten Krieg hat man sehr viele Soldaten dort stationiert, so auch mein Vater. Als die Mauer gefallen ist, hat er meine Mutter kennengelernt. Und jetzt halte dich fest: Meine Mama kommt ursprünglich aus dem Osten!“


Bei Karolin schießen die Augenbrauen hoch und sie schüttelt leicht den Kopf.

Roxanne: „Doch, doch – wie gesagt, eine abenteuerliche Geschichte. Übrigens ist sie in unserer Familie nicht die einzige Weiße. Meine Schwester Leni kommt ganz nach unserer Mutter.“

Karolin: „Also richtig schön gemischt. Wie alt ist denn deine Schwester und was macht sie denn?“

Roxanne: „Sie ist vier Jahre jünger als ich und ist Teamleiterin in einer Hausbaufirma.“

Karolin: „Wenn ich richtig in Erinnerung habe, hast du mir einmal angedeutet, deine Eltern sind beide Lehrer?“


Sie nickt bestätigend und streicht die blaue, schlichte Bluse glatt, welche die vollen Busen eher abrundet als denn verschleiert.

Roxanne: „So ist es. Er Englischlehrer, sie Chemielehrerin.“

Karolin: „Und wie gefällt es dir hier so? Du hast ja noch Praktikum, aber bald müsstest du den Abschluss in der Tasche haben, oder?“


Die Afroamerikanerin zuckt die Achseln und lehnt sich zurück, während sie die warmen Kaffees nippt. Sie denkt immer noch über den Anfang hier. Als sie hier begonnen hat, war das Staunen und die Neugier unter den Jünglingen extrem groß. Nach wie vor sind Dunkelhäutige in Deutschland recht rar. Das hat ihr zunächst Unwohlsein bereitet, aber die Kleinen haben recht schnell Interesse an ihrer Hautfarbe verloren, als sie gemerkt haben, dass sie vom Charakter nicht anders als die anderen Erzieherinnen ist.

Leider sieht es bei Eltern etwas anders aus. Die allermeisten haben dies auch schnell antizipiert, aber zwei oder drei Elternteile tun sich damit etwas schwer und provozieren hin und wieder mit kleinen Spitzfindigkeiten.

Echte Rassismus hat sie zwar nicht gespürt, aber schon das Gefühl, nicht mit dazu gehören. Dennoch hat sie sich schon von jung auf daran gewöhnt und so ignoriert sie geflissentlich solche Kommentare und Sprüche. Kleinkinder können sich schnell ändern, die Altgewordenen eher weniger. Wie gut, dass es immer noch so viele Menschen wie Karolin gibt, die einfach nur neugierig sind und mehr über die Hintergründe erfahren wollen.


Roxanne: „Ehrlich gesagt, gewöhne ich mich immer noch daran. Ich wollte irgendwie BWL studieren oder so Ähnliches, aber den entsprechenden Abschluss hatte ich nicht. Dennoch habe ich nicht bereut, stattdessen Sozialpädagogik genommen zu haben. Es macht wirklich Riesenspaß mit ganz Kleinen zu trainieren, zu spielen und vor allem Dinge beizubringen. Das ist wirklich toll!“

Karolin: „Ja, das habe ich immer wieder bei der Arbeit deutlich gemerkt. Also kannst du dir eine Zukunft als Erzieherin vorstellen?“

Roxanne: „Ich würde am liebsten nicht anderes als das machen. Höchstens vielleicht etwas, was ich mit Kindern machen kann.“

Karolin: „Super, dann glaube ich, dir steht ein perfekter Abschluss nichts im Wege… aber Roxanne, du musst mir echt erzählen wie deine Eltern sich kennen gelernt haben.“

Roxanne: „Hihihi! Also es begann im Jahr 1989…“


Doch sie wird durch ein plärrendes Geschrei im Nebenziemmer unterbrochen. Sie seufzt, während Karolin die Augen rollt und schon halb auf dem Weg ist. Roxanne richtet sich auf und räumt die Tassen weg.

Karolin: „Die Arbeit schreit…“

Roxanne: „Wohl wahr – Fortsetzung folgt!“


Lacht die zierliche, aber hochgeschossene Frau und folgt ihre Kollegin…
 
Roxanne Lockhart – Prolog II

Vor zehn Jahren…

… eine Woche später…


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Erfurt, Thüringen, Deutschland

05:32

Der digitale Wecker auf dem Nachttisch klingelt erbarmungslos und schrill. Als Antwort kommt ein Stöhnen und eine schokoladenbraune Hand krabbelt orientierungslos über den Wecker und als sie eine bestimmte Taste findet – nämlich die oft benutzte „Snooze“-Taste – findet, gibt es einen Klick und kein Schrillen mehr. Stille hat wieder die Oberhand übernommen.

05:37

Der digitale Wecker auf dem Nachttisch klingelt erbarmungslos und schrill… wieder. Das nervtötende Schrillen verstummt erst nach mehreren Sekunden und erneutes, suchendes Krabbeln einer Hand. Roxannes Augen und ihr Mund mit schmalen Lippen öffnen sich träge. Ein ausgedehntes Morgengähnen folgt. Sie braucht mehrere Sekunden, bis sie sich auf den Hintern setzen und die Augen reiben kann. Die Bettdecke fällt achtlos von ihrem nackten Oberkörper ab. Nach einem kurzen Blick durch die Jalousienschlitzen seufzt sie über die immer noch dunkle Nachthimmel. Sie mag viel lieber den langen Sommertagen wo sie noch die aufgehende Sonne vor der Arbeit genießen kann. Aber die Zeit ist jetzt vorbei, denn die Nächte werden wieder länger.

05:40

Sie hat sich einen flauschigen Morgenmantel überworfen, da sie das Bad stets nachts lüftet und morgens deshalb sehr frisch ist. Ein automatischer Heizungsregler wäre ziemlich genial, aber das kann man leider nicht von einer Zwei-Raum-Wohnung in einem Block von vielen, die ein Viertel nahe Zentrum von Erfurt regelrecht überwuchern, erwarten. Der Plan für jeden Morgen ist immer das Gleiche: Erst pinkeln, dann ans Waschbecken, sich frisch machen, und am Ende zufrieden feststellen, dass sie (noch) kein Make-Up braucht. Für die Arbeit im Kindergarten sowieso nicht, aber man wird eben älter…

06:07

Roxanne Lockhart ist jetzt angezogen, hat den Rucksack eingepackt und eine Smoothie getrunken und zum Schluss ein Stück weiße Schokolade abgebissen (eigentlich waren es zwei Stücke..). Jetzt schließt sie die Wohnungstür hinter sich ab und nimmt ein blauer Fahrradhelm unter der Achsel und geht die Treppe vonm vierten Stockwerk runter.

06:11

Auf dem Sportfahrrad, den sie zum 20. Geburtstag von ihren Eltern geschenkt bekommen hat, radelt sie gemütlich auf einem verschlungenen Radweg durch einen kleinen Park mit Spielplatz. Mit einem Lächeln, das mit der Morgensonne um Strahlkraft wetteifert, begrüßt sie wortlos eine Joggerin, die sie schon seit einem Jahr gesehen hat. Aus ihren Ohrstöpseln ertönt „My Way“ von Limp Bizkit. Sie könnte sich ein Auto leisten, aber wozu? Sie lebt und arbeitet in Erfurt, welche viele Radwege hat und ein ausgedehntes Straßenbahn- und Busnetz hat. Und der Erfurter Hauptbahnhof ist der zentrale Knotenpunkt von ganz Thüringen und führt in allen Ecken von Deutschland. Außerdem bringt ein Fahrrad das Klima nicht um...

06:21

Immer noch mit einem Lächeln bremst Roxanne das Fahrrad direkt vor den Türen ihres Arbeitsplatzes ab, da sie auf letzten Meilen Gas gegeben hat, so wie sie täglich immer macht. Sie verabscheut Sport, da sie sich vor Schweiß ekelt, aber um fit zu bleiben muss man leider was machen. Neben abendlichen Yoga erlaubt Roxanne sich also ein Sprint auf dem Fahrrad als Sporttätigkeit. Etwas überrascht kann sie das Auto von ihrer Kollegin Karolin nirgendwo finden, das ihren Stammplatz auf einer kleinen Parkfläche neben dem Kita hat. Heute ist es leer. Die anderen Erzieherinnen haben Urlaub, die Chefin kommt erst gegen zehn Uhr und der Hausmeister, der soeben vom Urlaub zurück ist, kommt auch erst eine halbe Stunde früher. Nach einem Blick auf ihr Smartphone ist der Grund offenbar: Karolin hat sich krankgemeldet.

Mit etwas mulmigen Bauchgefühl schließt Roxanne die Türe auf. Diese Nachricht bedeutet nämlich, dass sie bis 09:30 komplett auf sich alleine gestellt ist. Und das hat sie noch nie gehabt.


06:26

Gerade hat sie den Rucksack, den Helm und das Fahrrad noch rechtzeitig an sicherem Platz gestellt, als die sich ersten jungen Eltern mit Nachwuchs schon bereits melden. Mit einem diesmal geübten Lächeln führt Roxanne ebenso geübt die „Transfers“ durch und der Kindergarten „Ringelblume“ füllt sich mit Leben. Die Launen der Erwachsenen sind so unterschiedlich wie die Bewohner Erfurts: mal ziemlich mürrisch, mal völlig stoisch, mal einfach nur genervt oder auch tatsächlich auch ein freundliches Lächeln als Erwiderung. Worte werden nicht bis kaum gewechselt. Es ist alles purer Routine.

08:31

Zwei Stunden sind vergangen und Roxanne hat eine Frühstücksrunde mit Kindern gerade mal so überstanden. Dennoch hat Roxanne das Gefühl, der Tag würde niemals aufhören und ist gefühlt an drei verschiedenen Orten gleichzeitig. Muss sie auch, denn sonst niemand in ihrem Altersabschnitt ist hier. Lange kann sie alleine wirklich nicht mehr aushalten. Aber sie gibt sich allergrößten Mühe, denn sie liebt diesen Job und will dieser auch unbedingt behalten.

09:31

Wo bleibt nur der Hausmeister? Er ist oft eine große Hilfe, wenn die Besetzung mal etwas eng ist… vor allem wenn die Besetzung nur aus einer Kindergärtnerin und mehr als ein Dutzend kreischende, ständig bewegende und chaosstiftende Blagen besteht. Wenn die Chefin dann noch dazukommt, dann würde ein großer Teil des Lasts von ihren Schultern fallen.

Plötzlich kommt ein kleines Mädchen mit einem Plüschtier in den Händen auf Roxanne zugelaufen, welche gerade Spielzeuge beiseite räumt, um Platz für die nächste Unterrichtsstunde zu machen.


Tina: „Rok-sann! Rok-sann!“

Ruft sie laut und wippt mit dem Kopf. Roxanne wendet sich seufzend, aber immer mit einem Lächeln zu ihr.

Roxanne: „Ja, Tina, was ist denn los?“

Tina: „Lukas hat wieder A-a gemacht! In die Hose! Er stinkt voll!“

Roxanne: „Och, Menno. Nicht schon wieder.“


Lukas hat so seinen Kopf und macht was er will. Seine Eltern sind so ähnlich drauf. Der eine Bankier, die eine Versicherungsverkäuferin und beide halten sehr viel von sich selbst. Roxanne hat schon in regelmäßigen Abständen hören müssen, was denn so alles gut und schlecht für Lukas wäre und was für ein großartiger Junge er doch ist. Aber Lukas ist einfach nur ein Bengel der spielen und Unsinn im Kopf hat.

Roxanne: „Danke, dass du mir gesagt hast. Weißt du, wo Sascha ist? Der spielt wieder Verstecken, aber ich brauche ihn für die Unterricht.“

Tina schüttelt energisch den Kopf und rennt dann weiter zum anderen Zimmer. Lockhart richtet sich auf und geht zunächst zum Bad und öffnet die geschlossene Badetür, um Wasser in die Badewanne einlaufen zu lassen, um warmes Wasser zu bekommen. Im Haus ist immer noch ein Wasserkessel älteres Datum im Keller installiert, der seine Zeit braucht. Sie verlässt das Bad wieder.

Roxanne: „Lukas, du weißt doch, dass du nicht A-a machen kannst in der Hose. Das macht man nicht.“

Lukas: „Ist mir egal! Ha-ha!“


Roxanne verzieht den Mundwinkeln beim stechenden Geruch und hebt Lukas unter die Armen hoch, dann dreht sie sich mit ihm und läuft wieder zurück. Da steht Tina still vor verschlossene Tür. Roxanne kann sich nicht daran erinnern, dass sie die Tür zugemacht hat.

Roxanne: „Na, die Tür klemmt wieder, oder? Tina, musst du denn mal?“

Tina: „Die Tür ist wieder zu, ja! Neeee… Sascha ist schon drin!“

Roxanne: „Was? Wieso denn das?“


Überrascht setzt sie Lukas ab und greift nach dem Türgriff. Es klemmt natürlich.

Roxanne: „Sascha? Bist du drin? Hallo, Sascha?“

Sie hört Sascha etwas Undeutliches sagen, ansonsten nur das Rauschen des laufenden Wassers, das sich noch verstärkt hat. Auf einmal hört sie Saschas spitzen Aufschrei und ein lautes Knall. Danach nur noch Stille und das stete Rauschen. Besorgt hämmert Roxanne die Tür dagegen.

Roxanne: „Sascha? Sascha! Sag was! Saschaaa!“

Keine Antwort. Sie packt den Griff fest und zieht immer wieder mit aller Kraft daran, doch die Tür rührt sich einfach nicht. Sie klopft wieder an der Tür, dann wirft sie sich selbst gegen die Tür und zieht dann wieder an den Griff. Keine Wirkung. Das Wasser läuft nach wie vor. Kein Wort von Sascha. Mit immer mehr Verzweiflung hämmert sie mit beiden Fäusten auf die Tür und ignoriert dabei die Schmerzen in den Händen, dann nimmt sie kurzen Anlauf und wirft sich mit dem ganzen Körper gegen die Tür! Sie grunzt und stürzt auf den Boden, aber sie steht wieder sofort auf und zerrt heftig an den Griff.

Roxanne: „Gottverdammte Scheiße!“

Brüllt sie hinaus und ignoriert dabei das laute Schluchzen von Tina.

09:33

Eine ganze geschlagene Minute kämpft Roxanne Lockhart mit der klemmenden Tür, sie schlägt, zerrt und tritt immer wieder an der Tür, doch diese will einfach nicht nachgeben. Tränen laufen über ihre Wangen und pure Verzweiflung steht im Gesicht geschrieben. Hilflos lässt sie sich schluchzend auf den Hintern fallen und schreit mit krächzender Stimme:

Roxanne: „Hilfe…. Hilfe! So helfe mir jemand!“

Plötzlich hört sie jemand eilig die Treppe zu ihr hoch eilen und tatsächlich erscheint der Hausmeister atemlos. Er ist beinahe 50, hat ein kleines Bierbauch, wirkt aber selbst mit einem kleinen Schnauzer recht sympathisch. Seine Stimme zeugt deutlich von ausgiebigen Zigarettenkonsum.

Hausmeister: „Was ist denn hier los?“

Die angehende Erzieherin deutet schluchzend auf die Tür.

Roxanne: „Sascha ist drin! Und die Badewanne ist voll mit Wasser… irgendetwas ist mit ihm passiert… er sagt nichts mehr… die Tür krieg ich nicht auf…“

Hausmeister: „Was? Ach du Scheiße!“


Er schiebt paralysierte Roxanne zur Seite und zerrt am Griff, dann packt er mit der anderen Hand an die Türkante.

Hausmeister: „Gottverdammt, sitzt der fest! Verdammt, verdammt!“

Er knurrt und ächzt, dann springt auf einmal die Tür auf und der Hausmeister hätte fast das Gleichgewicht verloren, als er nach hinten gestolpert ist. Roxanne und er sehen gleichzeitig ins Bad…

Hausmeister: „Ist nicht wahr…oh Gott nein!“

10:23


Sie kann die Bild nie wieder vergessen. Die Szene, die sie im Bad gesehen hat, ist für immer ins Hirn eingebrannt: die leblos wirkenden Beine eines Jünglings, die über die Badewanne hängen, während das Wasser anfängt zu überlaufen.

Zum Glück hat Sascha überlebt. Es war wirklich knapp, aber der Hausmeister konnte das Kind wiederbeleben. Roxanne sieht leicht zitternd zu wie zwei Sanitäter inzwischen schlafenden Sascha auf die Krankenliege behutsam legen und die Liege in den Krankenwagen schieben. Die völlig aufgelösten Eltern diskutieren und wimmern um die Wette mit einem dritten Sanitäter, und nehmen glücklicherweise überhaupt keinen Notiz von Roxanne. Es wäre aber auch egal gewesen, wenn sie die Frau beschuldigt hätten. Sie fühlt sich eh innerlich tot, unfähig klaren Gedanken zu fassen. Der herannahenden Kita-Leiterin, die eigentlich erst 40 geworden, aber jetzt schon wie 60 wirkt, kann man die Migräne direkt ansehen. Die Chefin nimmt die Brille ab und schüttelt leicht den Kopf, während sie Roxanne mit einem vorwurfsvollen Blick taxiert.


Chefin: „Was zur Hölle ist passiert, Roxanne?“

Der Unfallhergang ist leicht erzählt: Sascha hat ein Spielzeug in die langsam sich füllende Wanne setzen wollen und dabei über die Kante geklettert, wo er die Gleichgewicht verloren hat und sich mit dem Kopf heftig an den Wasserhahn gestoßen hat. Daraufhin bewusstlos geworden, ist er direkt in die Wanne gefallen. Das langsam ins Saschas Mund fließende Wasser hat dafür gesorgt, dass er langsam, aber sicher ertrinkt.

Die dunkelhäutige Frau sagt nichts und starrt die Leiterin hindurch, als gäbe sie gar nicht.


Chefin: „Jesus. Wie konnte das überhaupt passieren? Wir bekommen so einen scheiß Ärger, weißt du das? Fuck! Wir alle kriegen einen scheiß Ärger!“

Der dritte Sanitäter bemerkt Roxannes Schock und lässt die Eltern einfach da stehen und geht auf sie zu, wobei er die Leiterin streng anblickt.

Sanitäter: „Sie steht unter Schock. Wir müssen sie zum Krankenhaus mitnehmen.“

Die Leiterin schnaubt und bemerkt dabei zwei Polizisten, die aus einem Streifenwagen steigen.

Chefin: „Ja, ja, gehen Sie nur. Fuck… jetzt noch die Polizei!“

Flucht sie und dreht sich zu den Polizisten um, während der dritte Sani Roxanne behutsam aufhilft und sie ebenfalls zum Krankenwagen vorsichtig führt. Roxanne fühlt nichts.


Es ist einfach alles egal. Nur eines ist irh vollkommen bewusst, so klar wie ein geschliffenes Diamant:


Ihr Leben ist vorbei.
 
Roxanne Lockhart – Prolog II

Vor zehn Jahren…

...nach sechs Monate…


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Praxis für psychotherapeutische Behandlungen Dr. Thamsbrück, Erfurt, Deutschland

Die Erinnerungen an die letzten sechs Monaten fühlen sich wie eine riesige schwere Blase an, die beim Pieksen nicht sofort zerplatzt, sondern wie ein zähes Kaugummi unendlich langsam implodiert. Roxanne Lockhart kann sich nur noch grob an Verlauf erinnern, es fühlt sich wie eine ferne Vergangenheit an, bar jeder Emotion…

Nach dem Vorfall wurde Untersuchung durch die Polizei, dann später durch eine Kommission des Kultusministeriums eingeleitet. Beides kamen zum Schluss, dass ein schrecklicher, aber vermeidbarer Unfall war und die Schuld konnte nicht alleine auf Roxanne geschoben werden, obwohl die Eltern von inzwischen behinderten Lukas am liebsten so sehen wollten. Das Gegenteil war eher der Fall, Roxanne wurde als Opfer eines systematischen Missbrauchs angesehen. Nichtsdestotrotz verschlechterte ihr Ruf sich enorm, die Eltern nahmen Abstand von ihr, viele forderten umgehende Entlassung und sogar ihre nette Kollegin Karolin wollte auf einmal nichts mit ihr zu tun haben. Der Kita wurde vorüber geschlossen und die Leiterin von ihrem Amt enthoben. Dies führte schließlich zum Auslaufen ihres Praktikumsvertrags ohne eine Überführung zum Arbeitsvertrag. Und aufgrund ihres Rufs war die Karriere vorerst ruiniert, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte.

Und jetzt sieht Roxanne sich auch nicht mehr in der Lage, mit kleinen Kindern arbeiten zu können oder sie zu betreuen. Dafür erinnert bei jedem Anblick einen Kleinwüchsigen sie gnadenlos an diese einem Bild, das sich praktisch auf ihre Netzhaut gebrannt hat. Das Bild im Bad und Lukas…


Dr. Thamsbrück: “Frau Lockhart? Frau Lockhart, Sie schweifen wieder ab.”

Roxanne: “Oh, sorry…”


Vor ihr sitzt eine attraktive, blonde Mittvierzigerin, die ihre Brille mit einem Seufzen abnimmt.

Dr. Thamsbrück: “Frau Lockhart, Sie sind seit sechs Monaten bei mir in der Therapie. Haben Sie eigentlich das Gefühl, dass Sie etwas erreicht haben? Dass unsere Sitzungen Sie geholfen haben?”

Roxanne: “Äh… ja. Ich denke schon…”


Doch das deutliche Stirnrunzeln der Psychotherapeutin macht ihr klar, dass sie Zweifel an Roxannes Wahrheitsgehalt hegt.

Dr. Thamsbrück: “Sie haben jede Nacht immer noch Albträume, oder?”

Das Schweigen ist ihr als Antwort genug und die Frau Doktor seufzt erneut.

Dr. Thamsbrück: “Dann müssen wir etwas anderes probieren, offensichtlich hilft Ihnen eine Therapie bei mir nicht.”

Roxanne: “Was? Heißt das, dass Sie mich nicht mehr helfen wollen?”

Dr. Thamsbrück: “Frau Lockhart, wenn Sie mir und vor allem sich selbst nicht öffnen wollen und Ihre Ängste sich nicht stellen wollen… wie stellen Sie sich dann den weiteren Verlauf vor? Ich helfe Ihnen gerne und Sie haben meine Unterstützung. Aber ich sehe hier einfach keinen Fortschritt und ich habe den Eindruck, dass Sie es auch nicht wollen. Ihre Gedanken kreisen immer wieder in der Vergangenheit.”

Roxanne: “Aber Sie haben doch selbst eben gesagt, ich soll mich das Geschehene stellen…”

Dr. Thamsbrück: “Nein, Sie sollen sich Ihre Ängste stellen. Das Geschehene ist vorbei. Das ist passiert, daran kann man nichts mehr ändern. Sie sollen aufhören darüber nachzudenken, was man alles tun könnte oder was man getan hätte. Das ist sinnlos. Es ist einfach vorbei, es gibt kein Zurück. Sie müssen aus diesem Unfall Schlüsse ziehen, aus Fehler lernen und dann nach vorne schauen.”

Roxanne: “Aber wie funktioniert das? Ich will so gerne mit Kindern arbeiten, aber meine Karriere ist ruiniert und ich bekomme Schweißausbrüche, Panikattacken und Schwächeanfall, wenn ich auch nur mit einem Kleinen interagiere…”

Dr. Thamsbrück: “Hören Sie, Frau Lockhart, das mit Schweißausbrüchen und Panikattacken, das kann ich Ihnen therapieren. Aber Ihre Zukunft kann ich leider nicht therapieren. Sie müssen nicht mit Kindern arbeiten. Sie haben die Wahl. Bauen Sie eine neue Zukunft auf. Suchen Sie sich neue Jobs. Neue Möglichkeiten finden und ausprobieren. Entwickeln Sie sich ein neues Talent. Nur weil Sie keine Erzieherin mehr sein können, heißt es nicht gleich, dass die Welt für Sie untergegangen ist. Die Welt dreht weiter. Und Sie haben zwei Optionen: entweder geben Sie auf und versinken in Selbstzweifel und ins Teufelskreis der Depressionen. Dann wäre aber jeder Mensch, den Sie jemals kennen gelernt haben, äußerst enttäuscht von Ihnen. Oder… Sie erfinden sich neu, Frau Lockhart. Überwinden Sie Ihre Blase und schauen Sie über den Tellerrand hinaus. Es gibt so viele Möglichkeiten. Sie sind hingefallen. Und zwar richtig schlimm. Aber Sie sind nicht tot. Stehen Sie jetzt auf, klopfen den Dreck ab und gehen Sie weiter. Am besten ein anderer Weg, damit Sie nicht in gleichem Loch fallen.”


Beide Frauen schweigen für einen Moment, während Roxanne nach unten schaut. Eine Träne läuft über die Wange.

Roxanne: “Aber das Aufstehen ist so schwer!”

Dr. Thamsbrück: “Ich weiß. Aber nehmen Sie sich Zeit. Ziehen Sie sich an Stützen. Stützen, die Ihre Freunde und Familien anbieten. Niemand verlangt von Ihnen, dass Sie sofort aufspringen und weiterrennen müssen. Manchmal ist es besser, sich Zeit zu lassen und dann auf sicherem Boden zu stehen.”

Roxanne: “Ich… ich werde darüber… nachdenken…”

Dr. Thamsbrück: „Das ist ein Anfang…“


Die Frau lächelt Roxanne entgegen und zum ersten Mal seit langer Zeit spürt Roxanne Kia Lockhart etwas anderes als Traurigkeit, Verzweiflung und Ruhelosigkeit.

Sie spürt…


…Hoffnung.
 
Roxanne Lockhart - Prolog IV

Vor 5 Jahren…

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Haus der Lockharts, Erfurt (Melchendorf), Deutschland

In einem typischen Neubaugebiet südlich von Stadtkern Erfurt, wo lauter Einfamilienhäuser jüngeren Baujahrs die lange Straßen säumen, kündigt schon von Weitem das laute Brummen eines BMW F900 R die Ankunft von Roxanne Lockhart. Das Motorrad saust mit leicht überhöhter Geschwindigkeit an die parkenden Autos vorbei und bremst quietschend in die Auffahrt von einem Haus, das man nicht ansieht, dass es schon 15 Jahre auf dem Buckel hat.

Als dann Roxanne vom Motorrad absteigt und den Helm abnimmt, lächelt sie beim Anblick beim kurz gemähten Rasen vor dem Haus.

Der Papa kann es einfach nicht anders. Es muss alles ordentlich und ordnungsgemäß aussehen, immer perfektes Vorbild.

Dann seufzt sie jedoch. Sie hat leider eine schlechte Nachricht zu überbringen… wieder mal.



… eine Stunde und ein Mittagsessen später…


Mr. Lockhart: „Engel, manchmal passiert es einfach immer wieder. Dass man dir gekündigt wurde, liegt offensichtlich nicht an dir, oder? Glaub' mir, diese Firma verpasst da eine Menge, Rox.“

Roxanne Lockhart: „Danke, Pops… du weißt immer, wie du mich aufmuntern kannst. Aber irgendwann muss es doch mit einer festen Anstellung klappen – zumindest in einem Job, wo ich mich wirklich entfalten kann. Bisher habe ich jedoch nichts gefunden, was mir guttun würde.“

Mr. Lockhart: „Dann musst du weitersuchen. Es kann vielleicht nochmals fünf Jahren dauern, aber wir werden dich immer unterstützen, ganz leich was auf uns kommen mag. Mach‘ dir nicht zu viele Sorgen.“


Im Hinterhof fängt Roxanne mit dem Baseballhandschuh einen Ball, dann wirft sie kraftvoll zurück.

Mr. Lockhart: „Und, Rox… du sammelst immerhin sehr viele Erfahrungen in allen möglichen Branchen. Die werden sich irgendwann garantiert auszahlen, davon bin ich überzeugt.“

Roxanne Lockhart: „Aber, Pops, was bringt mir die Erfahrung als Tierschützerin in Südafrika? Oder als LKW-Fahrerin in Australien? Oder als Schlangenfängerin in Kambodscha? Oder als Lademeisterin in Russland? Oder als Krankenschwester in der USA? Oder als Wissenschaftsgehilfin in Chile? Die bringen mir keinen Job näher, wie es mir scheint.“

Mr. Lockhart: „Das mag vielleicht so aussehen, aber wertlos sind sie niemals. Egal welche Art von Erfahrung. Wer weiß, was der liebe Herr so alles für uns hat. Der Gott hat immer ein Plan.“


Die Dunkelhäutige seufzt leise. Im Gegensatz zu ihrem Vater ist sie kein bisschen religiös. Allerdings auch nicht Atheist. Wenn man nach Ereignisse und Unfälle geht, die sie im Laufe der vergangenen fünf Jahre erlebt hat, dann ist sie absolut sicher, dass es irgendwo da einen Schutzengel gibt, der sie beschützt. Gedankenversunken lässt sie das Ball fast entwischen, aber sie reagiert noch rechtzeitig darauf und fängt es knapp ab.

Mr. Lockhart: „Du hast mir erzählt, welche Jobs du schon angenommen und ausprobiert hast. Dabei ist mir aufgefallen, dass du zwei Richtungen noch nicht gegangen bist. Vielleicht ist es an der Zeit, dass du diese ebenfalls beschreitest.“

Roxanne Lockhart: „Welche denn?“

Mr. Lockhart: „Militär und Sport.“


Die Tochter stöhnt theatralisch auf und schüttelt energisch den Kopf, während sie den Ball zurückwirft.

Roxanne Lockhart: „Du weißt ganz genau, dass ich das eine noch das andere überhaupt nicht mag. Sport ist Mord, Militär erst recht. Und außerdem magst du es nicht, wenn Frauen ebenfalls dienen wollen."

Der Vater lacht etwas bitter auf und mustert seine Tochter lange. Er ist wie Roxanne hochgewachsen und gutaussehend, die Alter hat ihm nur reifen lassen. Er trägt nach wie vor ein militärisch wirkender Kurzhaarschnitt, wobei an den Seiten schon ergrauende Haare zu erkennen sind, und völlig rasierten Kinn – ganz nach den Regeln der US Air Force – obwohl er seit Jahren nicht mehr einen Kampfjet geflogen ist. Selbst in der Freizeit ist er immer ordentlich gekleidet: saubere Hose und gebügeltes Hemd. In dieser Hinsicht hat Roxanne viel übernommen.

Mr. Lockhart: „Ja, gut, das mit Frauen in der Militär - da habe ich mich geirrt... Aber was bleibt dir denn übrig, Engel? Und wenn ich dich so anblicke… du bist viel sportlicher geworden als vor fünf Jahren. Du wirkst regelrecht fit und alles was du noch bräuchtest, sind ein paar Muskeln mehr. Außerdem kannst du verdammt gut werfen und fangen. Probier‘ doch einfach mal. Überwinde dich. Es ist schließlich eine Herausforderung, die zu meistern gilt, oder nicht?“

Damit trifft er bei ihr einen wunden Punkt. Roxanne hat schon lange damit beschäftigt, ob sie Intensivtraining machen würde, damit sie stärker wird.

Damit sie selbst eine klemmende Tür aufreißen kann und nicht auf einem alternden, biertrinkenden Hausmeister angewiesen ist.

Roxanne Lockhart: „Mir bleibt wohl wirklich nicht anderes übrig. Du hast recht, Pops – ich muss auch Sachen ausprobieren, die ich eher wenig mag. Wer weiß, was da rauskommt. Ich fange mit Sport an, ich brauche erst einmal richtiges Fitnesstraining.“

Daraufhin zeigt der Mann ihr gegenüber einem knappen, ja schelmischen Lächeln.

Mr. Lockhart: „Sehr gut. Denn ich habe nämlich schon jemanden im Kopf, der dich trainieren könnte. Ein alter Freund von mir aus der Militärzeit, der zufällig ebenfalls in Deutschland lebt und ein Fitnesscenter betreibt. Ich werde morgen euch zusammenbringen…“
 
Roxanne Lockhart - Prolog V

Vor zwei Jahren…

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Fitnesscenter „Black Diamond’s Boot Camp“, Koblenz, Deutschland


„…achtzehn… neunzehn…. Zwanzig! YES!“

Ruft begeistert ein ziemlich kräftig gebauter Afroamerikaner, der langsam auf die 50 zugeht, aber eher wie Mitte 30 aussieht. Nur die leichten Stirnfalten, ein mächtiger Schnurrbart und die lange Haare, die einen leichten Graustrich besitzen, deuten sein wahres Alter an.

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Vor ihm lässt Roxanne die Klimmzugstange los und landet völlig fix und fertig auf allen Vieren auf den Boden und bleibt dort erst einmal schwer schnaufend liegen. Ihr Mentor Malcolm Dawson kniet leicht gebeugt zu ihr hinunter und klopft ihr sanft auf den völlig verschwitzten und zitternden Rücken. Seine Stimme klingt von vielen Jahren Rauchen und lautes Sprechen tief und grollend, sehr passend zum ernsten Gesichtsausdruck und beeindruckendem Körperbau.

Malcolm Dawson: „Kannst du dich noch erinnern – als wir vor drei Jahren anfingen? Da konntest du nicht mal einen zweiten Klimmzug richtig hinkriegen.“

Roxanne lacht leise und atmet immer noch schwer, als sie sich langsam aufrichtet, nur um dann auf einem Holzbank Platz zu nehmen und ein paar Schlucke aus der Wasserflasche zu nehmen. Die drei intensiven Jahre haben aus einer jungen, schlanken und attraktiven Frau eine muskulöse Sportlerin gemacht, die ihre Leistungen auch vor Männer nicht zu verstecken braucht. Sie ist wie ein neuer Mensch geworden: Schultern sind massiv angewachsen, die Arm- und Beinmuskeln sind groß und stahlhart geworden, ihr Rücken und die Taille sind in die Breite gegangen und die Busen kleiner, aber auch sehr fest geworden.

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Und zum ersten Mal ist Roxanne K. Lockhart mit sich selbst im Reinen. Sie ist überglücklich, ehrgeizig und jederzeit bereit, praktisch die ganze Welt zu erobern. Und das hat sie ihrem Mentor viel zu verdanken, der ihr eine völlig andere Realität gezeigt hat.

Malcolm Dawson: „Zwanzig Stück sind enorm beeindruckend, Rox. Das schaffen nicht viele Frauen und selbst trainierte Männer kriegen das auch nicht so aus Effeff hin. Darauf solltest du stolz sein.“

Roxanne verzichtet auf eine verbale Antwort, sondern lächelt aufrichtig und dankbar zurück. Auch in dieser Zeit hat sie gelernt, dass Worte nicht immer alles sind und dass manchmal weniger sagen viel mehr bedeutet. Sie erinnert sich noch gut an die Vergangenheit, wo sie gerne und häufig geplappert und geredet oder lange mit Kolleginnen und Freundinnen geknetscht hat, aber 90 Prozent des Inhalts nichts bedeutet hat.

Es waren zwar drei richtig harte Jahre, aber sie hatte es überwunden und sich neu erfunden.

Jetzt will sie die Zukunft gestalten. Die Frage ist nur: wie soll sie aussehen? Und darüber hat sie Gedanken gemacht. Früher hätte sie einen ganz bestimmten Job niemals in Erwägung gezogen, aber jetzt nach viele Gespräche mit Malcolm…


Malcolm Dawson: „Du bist jetzt am Ziel gelangt, Lady. Wie geht es nun weiter mit dir?“

Die kräftige Dunkelhäutige antwortet nicht sofort, stattdessen vergräbt sie das Gesicht in die Hände und lässt einen tiefen Seufzer aus. Nach ein paar Augenblicke schaut sie zu ihrem Lehrer auf. Sie hat einen entschlossenen Blick im vor Schweiß glänzendem Gesicht.

Roxanne Lockhart: „Ich will das Gleiche machen, was du früher gemacht hast.“

Schweigen. Malcolm erwidert den Blick ebenso ernst.

Malcolm Dawson: „Wrestling?“

Er streicht mit zwei Finger über seinen Balkenbart und blickt nachdenklich in die Ferne.

Malcolm Dawson: „Das ist eine sehr langfristige Investition in dir. So etwas kann man nicht mittendrin aufhören, wenn man keine Lust dazu hat. Willst du das wirklich? Denn ich bin bereit, dir alles zu beibringen… wenn du absolut davon überzeugt bist.“

Überzeugt und selbstsicher richtet Roxannes großen Gestalt auf und steht direkt vor ihm, fast auf gleicher Augenhöhe. Sie bietet ihm die Handshake an. Der Mentor ergreift diese und drückt fest zu.

Malcolm Dawson: „Das wird nochmals mindestens drei Jahre dauern bis du als eine richtige Wrestlerin für die große Bühne bereit bist, Rox.“

Roxanne Lockhart: „Ich schaffe es in zwei.“
 
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Bar "Ted's Nest" - Koblenz, Deutschland
“Push Away” von Egypt Central füllt den Schwulenbar aus, welcher nicht weit weg von Malcolms Fitnessstudio befindet. Es herrscht eine ausgelassene Atmosphäre unter Männer, während Lampen in Disco-Farben den großen Tanzraum aufhellen. Im Zentrum steht der Bartheke, die zu drei Seiten offen zugänglich sind. Durch einen architektonischen Trick lässt sich der Tanzraum auch akustisch von einem eher ruhigeren Meet&Greet-Raum trennen, ohne den Anschluss an die Theke zu verlieren. Selbstverständlich bilden Männer unterschiedlichen Alters und Aussehens die überwältige Mehrheit, doch hier und da lassen sich auch Frauen, meist frisch ab 20 Jahren, finden. Sie werden zwar toleriert, aber sind nicht wirklich gerne gesehen, da sich offenbar eine oder andere noch glaubt, auf diese Weise attraktive Männer abschleppen zu können. Bis auf diese dunkelhäutige Halb-Amerikanerin, denn sie ist ein Stammgast und ihre Absichten sind bekannt. Denn Roxanne ist gerne hier, um einerseits die tollen Cocktails zu genießen und andererseits nicht auf Flirtversuche der Männer eingehen zu müssen. Während ihre linke Hand mit dem halbvollen Glas Screwdriver gedankenverloren spielt, wandern ihre Augen durch den gegenüberliegenden Tanzraum und beobachtet eher nebenbei die kunterbunte Mischungen von Hemden der Männer, die in diesem Bar ganz unter sich sein können. Ihre Gedanken sind aber ganz woanders, weit in der Ferne der Vergangenheit…

Und so bemerkt sie in ersten Sekunden nicht, dass sich ein Mann von ähnlicher Hautfarbe sich neben sie Platz nimmt. Seine braune Lederjacke mit blauen Muskelshirt darunter bildet einen starken Kontrast zu ihrem rot-weißem karierten Button-Down-Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln.
Roxanne: “Malcolm? Du hier?”
Ruft sie überrascht aus, während Malcolm grummelnd ein kurzer Rundumblick wirft.
Malcolm: “Vor 25 Jahren hätte man im Wrestling-Business mich deswegen ausgelacht… aber die 25 Jahre sind jetzt vergangen. Hallo Rox. Übrigens, Freunde nennen mich Alco…”
Doch Rox starrt ihn nur einmal für einen Moment an, gezeichnet von gewisser Verblüfftheit.
Roxanne: “Wir sind Freunde?”
Malcolm: “Haben wir je aufgehört, Freunde zu sein? Was trinkst du da?”

Nickt er in Richtung des halbvollen Glases.
Roxanne: “Screwdriver…”
Malcolm: “Dann nehme ich auch eins… hey… ein Screwdriver, bitte!”

Meint er zum Barkeeper, der gerade vorbeiläuft. Dieser nickt, dann wendet Malcolm zu ihrem Schützling wieder zu. Roxanne schüttelt sich kurz den Kopf, dann schaut sie ihn mit einem finsteren Blick an.
Roxanne: “Naja, als du mich in Stich gelassen hast, da war ich mir nicht so sicher…”
Ihr Mentor kratzt etwas verlegen an der Stirn, dann zuckt er die Achseln.
Malcolm: “Ja… das tut mir leid, Rox. Ich glaube, ich habe da etwas überreagiert. Aber manchmal bist du echt schwierig. Manchmal denke ich, ich habe da ein Teenie-Mädchen vor mir, das ihre Tage hat…”
Die muskulöse Frau blickt Malcolm wieder einen Moment lang und hebt dabei eine Augenbraue.
Roxanne: “Ich bekomme immer noch meine Tage.”
Sagt sie mit ernster Stimme und der Ex-Wrestler starrt diesmal wortlos zurück. Es droht ein peinliches Schweigen anzubrechen, doch dann lacht Rox heiter auf und legt eine Hand auf Malcolms breiten Schulter.
Roxanne: “Aber sonst hast du Recht. Ich habe damals mich ein wenig danebenbenommen. Ich war nervös, ich hatte meinen WFE-Vertrag noch nicht und wollte vieles… aber es war unfair von mir, dir schlecht zu reden. Das mit der Bemerkung über deinen Abgang hätte nicht sein müssen.”
Der stämmige Afroamerikaner nickt seufzend und erhält ein Glas Screwdriver, wo er einen kurzen Schluck nimmt und dann das Gesicht verzieht, was ein Lächeln bei Rox einbringt.
Malcolm: “Vergessen wir das Ganze einfach… übrigens Gratulation zu deinem Vertrag, du hast es doch geschafft. Einer der wenigen Momente, wo ich mich darüber freue, mich geirrt zu haben.”
Roxanne: “Danke. So unbrauchbar bin ich auch nicht, oder?”
Malcolm: “Ganz und gar nicht. Deshalb war ich damals auch so sauer. Du hattest so großes Potenzial, warst in vielen Sachen besser als meine bisherigen Schüler und du wolltest das Ganze nicht ernst nehmen…”
Roxanne: “Genau das ist die Sache, Alco. Deine Erwartungshaltung von mir… das kannst du bei einem Jungspund machen, aber nicht bei mir. Seien wir mal ganz objektiv, Alco. Ich bin jetzt über dreißig. Ich könnte noch zehn Jahre wrestlen, wenn’s gut läuft und mein Körper alles mitmacht. Egal, wie viele ich Muckis habe, ich bin am Ende immer noch eine Frau. Ich glaube nicht, dass ich noch schaffe ein Main Eventer oder ein richtiger Star zu werden. Außerdem will ich aufhören, wenn es die Zeit gekommen ist.”
Malcolm: “Ach, komm, Rox. So schlimm ist das nicht. Du bist verdammt robust, und ich habe ja auch nicht ewig lange gemacht.”
Roxanne: “Aber aus anderen Gründen, nicht weil du körperlich nicht könntest.”
Malcolm: “Die Wahrheit ist… ich war schon am Ende. Ich konnte noch viel, aber ich habe deutlich gemerkt, dass ich nicht mehr lange durchhalten konnte. Vielleicht noch zwei, drei Jahren, dann hätte ich auch so aufgehört. So ist das Leben, Rox, aber wir sollen immer das Beste draus machen. Also streng’ dich an, tritt ein paar Leute feste in den Arsch und gewinne irgendeine tolle Championship. Und hab Spaß daran, natürlich.”
Roxanne: “Das klingt nach einem guten Plan. Darauf sollen wir trinken!”
Malcolm: “Amen.”

Beide stoßen die Gläser an und trinken einen Schluck. Plötzlich taucht ein großgewachsener, attraktiver Mann mit breiten Schultern und gegelte brünette Haare. Dazu passt ein blauer Hugo-Boss-Hemd perfekt.
Mann: “Wow…!”
Sagt er anerkennend und mustert Malcolm von oben nach unten, der ihn noch gar nicht wahrgenommen hat.
Mann: “Also, wenn ich in diesem Alter bin, will ich auch genauso aussehen. Sexy! Wie machst Du das?”
Während Rox’ Gesicht zu einem stillen Grinsen verzieht, dreht Malcolm langsam zu ihm um und bleibt auf den Barhocker hocken und mustert den Mann kritisch für einen Augenblick. Dann reckt er ein Daumen hoch.
Malcolm: “Junger Mann… das ist ganz einfach. Viel Sport…”
Ein Zeigefinger geht ebenfalls hoch.
Malcolm: “...viele Vitamine…”
Dann der Mittelfinger.
Malcolm: “.. kein Zucker...”
Und schließlich Ringfinger, der mit einem Ring besetzt ist.
Malcolm: “...und eine Frau fürs Leben heiraten.”
Sein Gegenüber starrt ihn verwirrt für eine Sekunde an, dann stöhnt er enttäuscht auf.
Mann: “Oh Mann, Wieso habe ich immer nur Pech…?”
Sagt er zu sich, als er wieder abschwirrt. Roxannes Grinsen ist immer noch nicht verschwunden, als Dawson wieder zu ihr blickt.
Malcolm: “Was denn?”
Roxanne: “Brrr… eiskalt abserviert! Der sah doch ganz gut aus, Alco!”
Malcolm: “Du bist bescheuert, Rox…”

Das fröhliche Lachen von seinem Schützling schließt die Szene ab...
 
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